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jürgen von der wense (10.11.1894 – 9.11.1966), fragmentarisch.

schule: aufgerufen nach einem heft, das man nicht hat, sucht krampfhaft: “… eben noch gesehn. – misstrauisch über brille schielende lehrer. wusste nie stundenplan, welche bücher mitzunehmen, vergass alles, rannte in pausen nach hause. unordnung.

misstrauen gegen alles, was behauptet wurde, selbst die lateinische sprache. bibel unmöglich. schule. alle autoritäten widerlich.

als wäre alles schon erlebt. selten überrascht. alles komisch und gleichgültig. fähigkeit, alles zu tun.

es ist meine aufgabe, alle grenzen zu öffnen.

immer, bin ich bei freunden, mache ich mir vorwürfe, dass ich so stumm war. aber ich bin ungelenk mit der sprache, nicht unterhaltsam. ich erlebe alles zu dicht und kann dann nicht noch denken und formulieren. (…)

mir ist wie jemand, der mit gegenwind aus dem hause geht und mit gegenwind wieder heimkommt.

mein innerstes, von mir angeredet, bleibt immer kind. ich gehe in mich und wo finde ich mich? an einer ecke, träumend mit einer murmel. wenn ich dichte, spiele ich mit mir selber krieg. es ging mir im leben wie einem knaben beim spiel: man ruft ihn ins haus. gleich, sagt er, ich will noch diese mauer bauen. und die erwachsenen: gut, aber nur noch 5 minuten.> wo die anderen zögern, da bin ich geschickt und wo die anderen tapfer werden, da schäme ich mich.

als kind sagte man mir: werde nur älter und du wirst…, aber ich wurde nur jünger. wer in seiner jugend tollheiten plant und die fronten durchbricht, wird geliebt. wer mit 40 jahren aus natur zu solchen selbstverständlichkeiten noch entschlossen ist, denn nennt man nervös.

meine gedanken sind oft zu unpünktlich und verwöhnt, ich muss sie erst mit zucker locken, und wenn ich sie mühsam aufgestellt habe und exerziere, entfernen sich einige unter dringenden vorwänden und kommen nie wieder.

vielen erscheine ich rätselhaft. aber meine lösung ist einfach: ich bin simultan.

[wense: selbstzeugnisse, in epidot, münchen, 1987]

der flugtechniker, buchverkäufer, komponist, autor von poesie und prosa, journalist, linguist, volkskundler etc. dürfte einen der ungewöhnlichsten lebensläufe in der ersten hälfte des 20. jahrhunderts sein eigen nennen. an dessen ende hinterliess er über 10.000 manuskriptseiten, tagebücher, notenblätter, hefte und notizblöcke. stapel in einer göttinger dachkammer.

die inhalte des leidenschaftlichen grenzignoranten lagen meist in weitläufigen, heterogenen zwischenräumen von wissenschaft, poesie, philosophie und musik. nur weniges davon wurde zu lebzeiten publiziert: wense war zu wenig auf reputation bedacht um sich darum zu kümmern, nicht zuletzt auch zu rastlos und zu weit entfernt von allen konventionen um dauerhaft eine chance gehabt zu haben. nicht damals, nicht heute. und erst recht nicht hier in deutschland: geistige arbeit hat hier – und erst recht heute – in erster linie so planbar, geradlinig, störungsfrei und diszipliniert (sic!) wie servil zu sein. mit anderen worten: geschwätzig. beschränkt. risikofrei. kurz: bestenfalls mittelmässig. nur gut zu wissen, dass unsere hochschulen jetzt endlich wieder besser werden sollen: verheissungsvoll spricht man diesem und jenem und vor allem von elite. und meint: die perfekte optimierung des mittelmasses. die wenses konnte man schon immer recht gut verhindern, jetzt wird man endlich auch die restlichen dysfunktionalen störenfriede los. der seltsame vogel den man gerade posthum so stolz feiert, hat nochmal glück gehabt.

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