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Heute las ich einen Artikel über jemanden in meiner lokalen Lieblingszeitung, den ich zu kennen glaube. - - »Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich.« - - Im Augenblick schätze ich, damit hat Robert Walser allererst sich selbst gemeint.

OSTERTOR. Was wurde aus dem Zappelphillip, als er erwachsen war? Er verließ seine Heimatstadt Duisburg, studierte Philosophie, Linguistik und Informatik in Berlin und schreibt seither Restaurantkritik-Kritiken. Damit ist der 36-jährige Thomas Goldstrasz aus dem Viertel seinen Recherchen nach auf der Welt der einzige.

Er sagt den Satz mit viel Ironie. Aber auch wenn das Projekt skurril klingt, hinter der Idee steckt mehr: Ich muss solche Dinge tun, damit ich mein Leben strukturiere, sagt der Zwei-Meter-Mann mit den warmen braunen Augen, und für einen Moment lang weicht der Schelm aus seinem Jungengesicht. Thomas Goldstrasz leidet unter einer Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS.

Ich war sieben, als man die Krankheit bei mir diagnostizierte. Seither plage ich mich damit herum, erzählt er. Manchmal, da lägen Wahnsinn und Wirklichkeit sehr nahe beieinander. Der Informatiker, der seit einem Jahr in Bremen am Fraunhofer Institut für das Projekt eCulture Factory tätig ist und als Lehrbeauftragter an der Hochschule Bremen Seminare hält, hat gelernt, mit der Krankheit zu leben. Seinen Alltag managt er mit Kunst und Kreativität und schreibt als freier Autor unter anderem für die FAZ.

Während er erzählt, läuft er durch seine Wohnung. Die ist bis auf die orientalischen Teppiche seiner Großmutter und einen alten Ohrensessel fast leer. In zusammengezimmerten Regalen liegen und stehen Bücher, Farben, Stempel, Drucke und Ordner. Es riecht nach kaltem Zigarettenrauch.

Auf Goldstrasz’ Webseite sieht es puristisch aus. Hier publiziert er seit über sechs Jahren die Kritiken - die mehr an Theaterstücke erinnern. Angefangen hat es mit einer Restaurantkritik, die im Tagesspiegel veröffentlich wurde. Über die habe ich mich aufgeregt, erzählt er. Dabei geht es Goldstrasz nicht um die Restaurants, noch geht es ihm um Kulinarisches. Mir geht es um die Texte, sagt der 36-Jährige. Texte faszinieren ihn schon seit seiner Jugendzeit.

Als Student in Berlin gründete Thomas Goldstrasz das Philosophen-Café und den Wittgenstein-Lesekreis mit und setzte sich mit der Frage auseinander, wie das Verhältnis zwischen Köper und Geist ist. Ich fand den Gedanken interessant, dass unser Gehirn ein Computer sein könnte und unsere Seele die Software, sagt er. Das war der Grund, warum er Informatik studierte. Goldstrasz: Ich bin kein Technikfreak, aber Computer sind ein gutes Werkzeug, um die Frage zu klären, wie Texte funktionieren. Das versucht er auch in seinem neuen Projekt herauszufinden. In diesem Jahr möchte er einen Code generieren, mit dem er die Funktion von Nachrichten knacken kann. Derzeit macht er es noch manuell - und zwar so: Ich suche mir jeden Tag eine beliebige Meldung aus der Zeitung und fasse sie in drei Zeilen zusammen. Seit kurzem flimmern seine Nachrichten auch über die Urban-Media-Häuserwand am Ziegenmarkt, und im Internet kann man das Jahresprojekt ebenfalls verfolgen. Und auch das ist typisch für Goldstrasz: Seine Kunstprojekte haben immer eine Deadline. Von den Restaurantkritik-Kritiken wird es genau 99 geben, die im Abstand zwischen zwei und 20 Monaten aufeinander folgen, erklärt der Informatiker. Andere Kunstaktionen wie Engel in Berlin oder Zeitverschwendung waren jeweils auf ein Jahr angelegt. Bei den Berliner Engeln sammelte der Kreative jeden Tag etwas auf, das ihm auf seinem Weg begegnete. Das waren Flyer, Postkarten, ein weggeworfener Brief oder ein Preisschild. Darauf habe ich den Abdruck eines Engels, den ich beim Bleigießen gegossen habe, aufgedruckt, erzählt er. Im Jahr 2006 hat Goldstrasz jeden Tag mit einem selbst entworfenen Stempel in rot-schwarzer Farbe das Wort Zeitverschwendung gedruckt. Außerdem entwirft er Postkarten. Die hat er einmal in einer Berliner Galerie ausgestellt. Sonst können seine Kunstprojekte nur im Internet angeschaut werden. Ist vielleicht doof, dass ich meine Sachen nicht ausstelle, aber ich kann mich nicht wirklich dazu aufraffen, erklärt er entschuldigend.

Seit einiger Zeit führt der Viertelbewohner gemeinsam mit einem anderen Erkrankten ein Internettagebuch über ADHS. Auf dem Hochgeschwindigkeits-Langsamkeits-Blog, kurz HGL, gehen Goldstrasz und sein Co-Autor auf Spurensuche. Mit ADHS ist man mit Mozart, Einstein oder Balzac in bester Gesellschaft. Auf unserer Internetseite kann man Privates lesen oder sich anschauen, dass die Krankheit auch in Hollywood-Filmen vorkommt, erklärt der Informatiker. In den kommenden Wochen wird sich Goldstrasz um die nächste Restaurantkritik-Kritik kümmern - und in den Texten des Michellin-Guides nach einer nachprüfbaren Nähe zur Reifenindustrie suchen. Außerdem sind seine Nachrichten in drei Zeilen auf der Hauswand zu lesen. Irgendwann mache ich dann vielleicht auch was richtig Brauchbares für ADHS-Kranke, sagt er schelmisch. Der Zappelphillip ist erwachsen geworden.

Alle Projekte von Thomas Goldstrasz sind über seine Webseite www.goldstrasz.de abrufbar. Die Restaurantkritik-Kritiken können dort auch abonniert werden.

Unter www.nachrichten-in-drei-zeilen.de kann das aktuelle Jahresprojekt angeschaut werden.

Aus: Weser Kurier (Bremen) vom 01.02.2007. Hier zweitpubliziert mit Erlaubnis von der und Dank an die Autorin Tina Groll.

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