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Heinrich von Kleist kann man nicht vorwärts und rückwärts kennen, wie Johann Wolfgang von Goethe. So oder ungefähr so das Fazit von Hermann Kurzke in seiner Rezension Heinrich von Kleists Krankheit und Größe. Kleist hätte dafür erstens zu viele Kapriolen geschlagen und zweitens sei unsere Zeit überhaupt zu blöde, einen so klugen Kopf wie den Kleist zu begreifen. Ersterem stimmen wir zu, letzteres lehnen wir ab. Aber das alles wäre hier nicht der Rede wert, wenn in Kurzkes Rezension nicht das folgende hier stünde:
Jemanden wie Heinrich von Kleist würde man heute in die Psychiatrie stecken. Schon als Kind sei er, so ist es überliefert, ein nicht zu dämpfender Feuergeist gewesen – man hätte ihm heute das Zappelphilippsyndrom zugeschrieben, und Pillen gegen ADHS hätte er bekommen, um den krassen Wechsel zwischen Hyperaktivität und Depressivität ins Flussbett der Gewöhnlichkeit hineinzudämmen. Aber könnten wir dann dieses grandiose dichterische Werk bewundern?
Diese Frage, ob es Kleists Werk auch gäbe, wenn er zu seiner Zeit auf ADHS diagnostiziert worden wäre, ist genauso öde wie die Frage, ob Kleist auch in die Kantkrise geraten wäre, wenn er die Sonnenbrillen von Freudenhaus gekannt hätte, oder ob er sich auch in den Kopf geschossen hätte, wenn er von Marcel Reich-Ranicki verrissen worden wäre anstatt von Goethen, wie es eben ist gewesen.
Wie Kleists Zeit auch immer gewesen ist, sie war eine Zeit mit Menschen, die ADHS hatten, avant la lettre, wie das eben ist. Und interessant ist es, das einzig Interessante an dieser Rezension ist es, Menschen aus vergangenen Zeiten posthum zu diagnostizieren. Womöglich begreift man das ein eine oder andere von ihnen besser mit der begrifflichen Brille unserer Zeit. Sofern man etwas von dem Begriff versteht, mit dem man seine Diagnose schreibt.
Die Frage ist: Kam Herr Kurzke selbst auf die Idee, dem Herrn Kleist den Begriff ADHS posthum ins Psychogramm zu schreiben. Ja?: Nicht schlecht im Ansatz, übel in der Ausfolgerung. Nein?: Aus welcher der beiden bsprochenen Biografien mag er wohl es haben?: Aus Gerhard Schulz’ Kleist oder aus Jens Biskys Kleist. Ich will’s herausfinden, ich werde es herausfinden, ja, nun, die beiden Bücher befinden sich bereits auf meinem Reading Stack.